Geistesgeschichte anschaulich: Vortrag von Wolfram Eilenberger am 7.11.19

„Zeit der Zauberer: Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919-1929“

„Gezaubert“ hat an diesem Abend vor allem einer: der Vortragende selbst, und zwar die Mensa am Donnerstag Abend voller Leute, ein Lächeln auf die Gesichter seiner ehemaligen Lehrerinnen und Lehrer und den Vorsatz, mal wieder ein philosophisches Buch im Original zu lesen, auf die To-Do-Listen der Zuhörerinnen und Zuhörer. Die „Zauberer“, über die Wolfram Eilenberger spricht, sind Ludwig Wittgenstein, Ernst Cassirer, Martin Heidegger und Walter Benjamin: die ihm zu Folge maßgeblichen Philosophen des frühen 20. Jahrhunderts. Und man folgt ihm und folgt ihm gerne in seinen Ausführungen, dem ehemaligen OHG-Schüler, der etwas schüchtern vorne am Podium steht – aber nur, wenn er bemerkt, wie merkwürdig es ist, vorne zu stehen und seine alten Lehrer nach Fragen zu fragen.

  

Foto: H. Winckelmann

Drei der vier „Zauberer“ aus seinem Buch „Zeit der Zauberer: Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919-1929“, das in diesem Jahr in die zehnte Auflage ging, stellt er an diesem Abend vor – so lebendig und verständlich, wie Philosophie selten daherkommt. Bei ihm ist Ludwig Wittgenstein nicht nur der, der Werke schrieb, die (außer ihm) niemand verstand, er ist der Idealist, der sein komplettes (siebenstelliges) Vermögen aufgab, um in Armut glücklich zu werden, und der Grundschullehrer wurde, weil er einen Job suchte, bei dem er möglichst wenig nachdenken musste. Das ist so komisch, dass die geneigte Zuhörerschaft gedanklich ein ganz klein wenig näher an den unerreichbaren „Gott der Philosophie“, wie ihn seine Kollegen in Cambridge nannten, heranrückt und es für ein bisschen weniger abwegig hält, etwas von ihm oder zumindest über ihn zu lesen.
Die Blüte der Philosophie in den Zwanziger Jahren, der Zeit der Weimarer Republik, erklärt er mit der zivilisatorischen Krise nach dem Ersten Weltkrieg. Viele kennen die Rede von den drei großen Kränkungen der Menschheit durch das Kopernikanische Weltbild (wonach die Erde nicht Mittelpunkt des Universums ist), Darwins Evolutionstheorie (wonach der Mensch nicht mehr als Krone der Schöpfung erscheint) und Sigmund Freuds Psychoanalyse (derzufolge wir nicht einmal „Herr im eigenen Haus“ sind). Eilenberger zeigt, wie diese drei zusammen mit Albert Einsteins Relativitätstheorie den bis dahin maßgeblichen Philosophen des Abendlandes, Immanuel Kant, aushebeln. In der entstehenden Leere machen sich die damals jungen Philosophen ans Werk und beantworten die Frage des alten Meisters, „Was ist der Mensch?“, auf unterschiedliche Arten neu. „Die quatschen die ganze Zeit“, erklärt Eilenberger, wäre wohl die Antwort von Außerirdischen nach einem Forschungsbesuch auf der Erde. Wittgenstein spricht vom Menschen als sprechendem oder fiktionalem Wesen – aber so kann man es auch ausdrücken. Cassirer sieht den Mensch als Wesen, das mit Zeichen Sinn schafft. Aber nicht vergessen wird man nach diesem Abend die Aussage, dass es der einzig geistig Gesunde unter den Vieren gewesen sei: ohne Depression und Suizidgedanken. Und Jude. Was auf ungemütliche Art zu Heidegger überleitet, der die Angst als Grundtriebfeder des Menschen verstand und den Verlockungen und Versprechungen des Nationalsozialismus für einige Zeit erlag. Eine nichtsdestotrotz sympathische Idee aus „Sein und Zeit“: Heidegger verwendet Begriffe aus seinem Schwarzwälder Dialekt in seinem Versuch der Spracherneuerung.

 Foto: I. Wagner

Fragen zur Rolle der Philosophie angesichts der aktuellen politischen Entwicklung kommen denn auch aus dem Publikum. Eilenberger warnt, die Macht und Einflussmöglichkeit der Philosophie zu überschätzen, wie es seinerzeit Heidegger tat, der meinte, den „Führer führen“ zu können. Es hören, so weiß er, meistens nur die zu, die keiner Belehrung bedürfen – und die anderen werden auf diesem Wege kaum erreicht. Als bedenklich stuft Eilenberger auch die Rhetorik der Klimaaktivisten ein, nach der man jetzt handeln müsse, weil sonst alles verloren sei. Historisch hätten derartige Denkungsarten häufig zu wenig besonnenem Handeln geführt. Die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer sieht Eilenberger, der zugibt, keinen Tag gern zur Schule gegangen zu sein, in der des „älteren Freundes“, an den die Schülerinnen und Schüler sich mit ihren philosophischen Fragen wenden können, weil der (oder die) im Denken schon ein paar Schritte weiter ist.
Der sympathische Autor des „Spiegel“-Bestsellers „Finnen von Sinnen“ ist, wenn er nicht in unserer Mensa Vorträge hält, unter anderem Kolumnist bei der „Zeit“, moderiert die „Sternstunden der Philosophie“ in der Schweiz und verleiht – wie es Klappentext von „Zeit der Zauberer“ formuliert – in Fernseh-Talkshows „der Philosophie eine Stimme und ein Gesicht“. Der „wohl begabteste Vermittler von Geistesgeschichte im deutschsprachigen Raum“ (ebenda) machte vor 25 Jahren sein Abitur am OHG und während er es erst „ganz schön unheimlich fand“ wieder hier zu sein, stimmten ihm am Ende alle Anwesenden zu, dass es aber auch „ganz schön schön“ war, dass er zum Jubiläum sozusagen wieder „die Schule besucht“ hat.

S. Guttmann 11/2019